“Warum trinkst du nicht?”

Inhaltshinweis: Sucht und Trauma erwähnt, Alkohol, andere Drogen

Wenn ich im Folgenden von “Trinken” rede, meine ich: “Alkohol trinken”. Dass das so üblich ist und idR. so verstanden wird, wenn wir einander nicht bösartig missverstehen (ich denke hier an diese eine Szene aus dem Film Oh Boy / A Coffee in Berlin), ist ein Thema, dass ich vielleicht nochmal aufgreifen werde.
Aus Gründen der Lesbarkeit verzichte ich in diesem Text darauf, die Vorsilbe “ge-” durch “gay-” zu ersetzen.

Ich trinke wenig. Oder selten. Neben meinem Klo liegt ein Zine, das sich mit Nüchternheit und Anarchismus befasst. Als ich dachte, dass ich in letzter Zeit ja ziemlich viel getrunken habe, fiel mir auf, dass das “ziemlich viel” konkret bedeutete: Alle zwei Wochen ein bis zwei alkoholische Getränke. Für dien Durchschnittsdeutschen ist das wohl nicht “ziemlich viel”. Zumindest habt ihr jetzt eine Vorstellung davon, wie viel (oder wenig) Alkohol ich so trinke. Oft weiß ich gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal getrunken habe, weil es so lang her ist. Alkoholkonsum ist in Deutschland aber eine soziale Norm.

Theorie
Ich kenne zwei Modelle, die beschreiben, welche Rolle Alkohol in einer Gesellschaft spielt. Diese Modelle haben 3 bzw. 5 Stufen. Deutschland gilt in beiden als alkoholdeterminierte Kultur: Alkohol gehört zu bestimmten Anlässen “einfach dazu” und es ist nichts besonderes und auch nicht schlimm, besoffen durch die Straßen zu torkeln und La Paloma zu singen. Im 3-Stufen-Modell ist das auch schon die letzte Stufe, im 5-Stufen-Modell kommt danach noch was. Ich weiß das aus meinem Kopf, daher gibt es hier keine Quellenangabe. Bestimmt hilft dir die Suchmaschine deines Vertrauens, wenn du mehr wissen willst :o)
/Theorie

Nichttrinken in einer Gesellschaft, in der Trinken normal und erwünscht ist, bringt ein paar Schwierigkeiten mit sich. Ich finde es nicht schlimm, wenn mir wer Alkohol anbietet und ich “nein” sage. Ätzend ist es, wenn ich darüber diskutieren muss.

Von ein paar (typischen) Erlebnissen möchte ich euch erzählen:

Donnerstag Abend, ich bin in einer Disco (Was ist das für 1 Life? :o) ) und hole mir eine Cola. Wer an einem Donnerstagabend feiern gehen kann, hat meistens nicht so viel Geld. Daher ist es sogar ziemlich budgetfreundlich, wenn “Party” und “Alkohol” nicht zwingend zusammen hängen. Vermutlich werden Discobetreiber*innen dadurch die Leidtragenden. Andererseits verdienen sie an Konsument*innen vermutlich auch nicht so viel, da “Vortrinken” halt ein Ding ist. Wie dem auch sei, ich bin im Club, hole mir einen Softdrink und ein Bekannter fragt, ob das Cola sei. Ich nicke. Er deutet, lautstärkenbedingt, mit einer Geste Autofahren an. Ich schüttle den Kopf. “Warum trinkst du dann nicht?” Da ich ihn nicht böswillig missverstehen will, verweise ich nicht darauf, dass ich doch gerade trinke (nämlich Cola), sondern reagiere mit einer Gegenfrage: “Muss ich jetzt ernsthaft begründen, warum ich gerade keine Drogen nehme?” Das leuchtet ihm ein.
Auch auf Familienfeiern muss ich mich oft dagegen “wehren”, zu trinken. Nein, ich will keinen Wein. Nein, ich möchte das nicht begründen (müssen).
Anderer Kontext. Die Hochschule als alkoholexzessiver Raum. Der Fachschaftsrat organisiert ein gemütliches Beisammensein (Partys sind an dieser Uni verboten :0 ). Das einzige nicht-alkoholische Getränk ist das Tonic Water, das neben der Flasche Gin steht. Immerhin können wir die Kaffeemaschine ‘rausholen, was mir nach einem anstrengenden Arbeits-/Uni-Tag gut tut. Den Rest des Abends bediene ich mich am Wasserhahn. Tonic Water finde ich nämlich auch ohne Gin ekelhaft.
Das Frauenreferat organisiert jedes Semester einen Sektempfang. Dass es auf einem Sektempfang (große Mengen) Sekt gibt, überrascht mich nicht. Ich gehe hin, führe nette Gespräche und freue mich über die große Auswahl Softdrinks. Sogar alkoholfreies Bier gibt es, und da ich Bier so lecker finde, dass ich es sinnvoll finde, alkfreies Bier zu trinken, nehme ich mir eins. Eine der Organisatorinnen hat mich sogar extra darauf hingewiesen, daher müsste eigentlich auch den Umstehenden klar sein, dass ich nicht trinke. Dennoch muss mich eine*r darauf hinweisen, dass das alkoholfrei ist. Danke, Sherlock! Da der Hinweis nicht reicht, wird natürlich noch eine Begründung verlangt. “Ich mag Bier. Ich will keinen Alkohol trinken.” reicht als Erklärung, da ich heute keine Lust habe, darüber zu diskutieren. Also: Auch F*T*I* Veranstaltungen sind keine sichereren Räume für Nicht-Trinker*innen, bzw. existieren sie nicht außerhalb der alkoholdeterminierten Kultur.
Denkt doch mal daran, welche Gründe es alles geben könnte, aus denen wer nicht trinkt, und sortiert eure Kommentare bitte mal auf ner Skala von Unnötig bis Unangemessen. Ich helfe euch ein bisschen, falls ihr euch nicht in Leute einfühlen könnt, die (ab und zu) nicht trinken:

  • keine Lust / kein Interesse
  • übler Kater vom Vortag
  • religiöse Gründe
  • Trauma
  • Fremdgefährdung vermeiden (Beispiel Auto fahren)
  • trockene*r Alkoholiker*in
  • politische Überzeugung
  • gesundheitliche Gründe
  • Mischkonsum vermeiden

Neben dem eher indirekten Verweisen auf die Norm, die ich ja gerade beschrieb, gibt es auch offene Angriffe. Ich fühlte mich sehr unwohl, als ein Bekannter von mir eine andere Bekannte darauf verwies, dass niemand Spaßbremsen möge, als sie einen Schnaps ablehnte. Leider war ich auch zu überrascht, um zu sagen, dass ich diesen Kommentar unpassend finde :o/

Letzte Situation. Die unterscheidet sich darin, dass hier nicht über Nicht-Konsum, sondern über geringen Konsum geurteilt wird. Ein Freund und ich hängen bei mir rum, reden und trinken und machen uns dann auf den Weg in den Club. Am Bahnhof warten wir auf einen Kumpel von ihm und gehen gemeinsam zur Disco. “Ihr habt aber auch schon getrunken, oder?”, fragt er, im Gegensatz zu uns offensichtlich alkoholisiert. Ich weiß nicht, ob er tatsächlich nach der Menge frug oder wie es dazu kam, dass ich sagte: “Wir haben eine Flasche Wein getrunken und noch Bier.” Er spottet darauf hin: “Oho, eine Flasche Wein, übertreibt mal nicht!” Mit zwei Leuten eine Flasche Wein leeren und dann noch Bier hinterher gießen (als Partyvorbereitung, sog. “Vorglühen” – also auch in Hinsicht darauf, dass auch noch was kommen kann!), ist wohl inakzeptabel. Nicht nur Alkohol trinken, auch Trunkenheit ist die Norm. (Den Zusammenhang vong Gender und Alkohol muss ich viellicht auch nomma betrachten!) Später an dem Abend hab ich noch gemerkt, dass ich nicht so richtig verstehe, warum ich früher oft betrunken war. Betrunken kann ich doch gar nicht richtig tanzen! (Dieser cissexistische Promillerechner hat mir gerade zu der Einschätzung verholfen, dass ich wirklich nicht viel Promille hatte, aber es reichte, um einiges an Kontrolle über meinen Körper einzubüßen. Das macht mir keinen Spaß.)

So. Das war ein Rant. Vielleicht kriege ich noch ne Lösung hin. Wie kann ich sinnvoll umgehen mit der Vorannahme, dass alle Alkohol trinken (wollen)? 

Der Spruch: “Muss / Soll ich jetzt wirklich erklären, warum ich keine Drogen nehme / Rauschmittel konsumiere?” funktioniert meiner Erfahrung nach ganz gut. Generell kann es funktionieren, in ner Party-Situation sichtbar zu machen, was hier eigentlich gerade läuft. “Mich verwirrt, dass ich erklären soll, wieso ich gerade keine Drogen nehme” ist vielleicht etwas weniger aggressiv. Das kann vermutlich auch funktionieren, wenn sich wer beschwert, dass du zu wenig trinkst. Sonst habe ich noch keine sinnvolle Antwort gefunden. Ich habe vor, mal die Drogen-Toleranz derer, die den Konsum der Droge Alkohol quasi einfordern, zu testen. Eine Idee ist, auf die Frage, warum ich nicht trinke, zu antworten: “Ich will mir später noch Pferdebetäubungsmittel spritzen, aber in Kombination mit Alkohol ist das gefährlich!” (Ernsthaft. Tut das nicht. Das kann euch umbringen! Ich will hier jetzt kein großes Safer Use Gerede einbauen, nur so viel: Überlegt euch gut, ob ihr euch was spritzen wollt, mit dem große Tiere betäubt werden. Wenn ihr es wollt: kein Mischkonsum!) Mal schauen, wie Leute das finden. Gefühlt ist für viele “Alkohol” was ganz anderes als “Drogen” und das eine uneingeschränkt gut, während das andere uneingeschränkt böse ist.

Auch außerhalb des Party-Kontexts kann darüber gesprochen oder geschrieben werden, wieso eigentlich überall getrunken wird und warum wir uns rechtfertigen müssen, wenn wir es nicht tun. Wie hier gerade.

Wir können auch mal über drogenfreie Räume reden. Es gibt wenige. Wenn ihr euch umschaut, gibt es nicht viele Gelegenheiten, auszugehen und nicht mit Drogen und berauschten Personen konfrontiert zu werden. Oben verlinktes Zine hat ein paar Ideen und zeigt direkt, was bei den Ideen nicht so gut klappte. Allein im drogenfreien Raum einer Party zu sitzen, ist halt so mäßig unterhaltsam. Wir könnten drogenfreie Partys, Tresen, Stammtische und Picknicks veranstalten. Vielleicht schwappen die auch über unsere drogenfreie Blase hinaus – und wenn nicht, dann haben wir halt Spaß ^_^

Einen anderen Tipp habe ich oben ja quasi schon angebracht:

Hört auf, Leute zu fragen, wieso sie (gerade) keine Drogen nehmen!

 

Schlussbemerkung:
Ich bin pfoll dafür, Leuten, die das wollen, ihren Rausch zu gönnen. Es geht mir hier keinesfalls darum, Leuten ihren Drogenkonsum zu verbieten oder ihn pauschal zu problematisieren. Wenn es aber darum geht, dass Leute, die (gerade) nix nehmen, in ner Rechtfertigungsposition sind, sollten wir vielleicht mal darüber reden, ob da was schief läuft.

Für weitere Ideen und Kommentare und Anmerkungen und Kritik stehen euch die Kommentare zur Verfügung.