Worüber wir nicht urteilen sollten

Inhaltshinweis: Trans, Invalidierung, internalisierte Transfeindlichkeit, Dysphorie und Trauma erwähnt, Menstruation, Blut und Wörter, die evtl. verletzen können. 

Ultrakurzfassung:

Sagt Leuten nicht, wie sie mit ihrer Menstruation umgehen sollen. Redet Leuten nicht in ihre Geschlechtsidentität rein und sagt nicht, dass es nur einen Weg gibt, korrekt trans zu sein.

Lange Fassung:

Zu vielen Themen gibt es eine vorherrschende Erzählweise. Wenn diese als schädlich empfunden wird, entstehen Gegengeschichten, die etwas aus einem anderen Blickwinkel betrachten, anders deuten oder anders darstellen. Und diese Erzählungen sind wichtig. Sie eröffnen die Möglichkeit, etwas anders zu denken und können Einstellungen zu bestimmten Themen verändern. Schädlich wird es, wenn die Gegengeschichte in bestimmten Kreisen oder unter bestimmten Leuten die einzige ist, die erzählt werden darf und Personen fertig gemacht werden, wenn sich ihr Empfinden oder ihr Handeln doch eher mit der Mainstream-Erzählweise deckt. Deshalb folgt hier anhand von zwei Beispielen, an denen mir das besonders auffiel, ein Plädoyer für mehr Akzeptanz unterschiedlichen Er_Lebens.

Eine Geschichte bezieht sich auf Transgender/Transidentität. Vorherrschend scheint hier eine Erzählweise zu sein, in der jemand “als Mann geboren wurde und eine Frau wurde”, “im falschen Körper geworden wurde”, “früher mal eine Frau war und jetzt ein Mann ist”. Da dass dem Er_Leben vieler trans Leute nicht gerecht wurde, gibt es Erzählungen, die ich sehr wichtig und sehr wertvoll finde: dass jemand nicht in einen Geschlecht geboren wurde und erst nach medizinischen Angleichungen einem anderen angehört, sondern dass trans Frauen schon immer Frauen, trans Männer schon immer Männer und Enbies [nicht binäre Personen] schon immer Enbies waren. Ich finde diese Denkweise sehr bereichernd und habe darüber nachgedacht, ob sie für mich passt – und die Antwort war: “Nein.” Ich war nicht immer so und ich empfinde mein Geschlecht nicht immer gleich. Die meiste Zeit schon, aber ich erlebe Schwankungen. Mal ist eine Identität da, mal nicht, mal sieht sie so aus, mal anders. Also kann ich nicht sagen, dass ich schon immer _______ war. Naja, könnte ich schon, wäre aber gelogen. Und genau wegen diesem Empfinden wurde mir erklärt, dass ich nicht trans bin, weil trans Leute schon immer ihr Geschlecht hatten und es sich niemals verändert hatte. (Deshalb gibt’s ja auch kein Wort wie genderfluid oder so.)
Es ist doch keine Lösung, einem Diktat, wie trans Leute sein müssen, ein anderes entgegen zu stellen und Personen zu transfeindlichen Fieslingen zu erklären, weil sie sich selbst [!] FzM / FtM (Frau-zu-Mann / Female-to-Male) oder MzF / MtF (Mann-zu-Frau / Male-to-Female) nennen. Versteht mich nicht falsch, ich kann es total nachvollziehen, wenn eine trans Frau sagt: “Nenn mich nicht MtF! Ich war schon immer eine Frau!” Leute niederzuschreien: “Du darfst dich nicht MtF nennen, sonst bist du transfeindlich und ein richtig schlechter Mensch!” ist halt keine gute Vorgehensweise. Genau so wie die Erklärung, dass alle, die MzF oder FzM Labels verwenden, das nur tun, weil sie nicht nachdenken können und unreflektiert die Transfeindlichkeit der Mainstream-Erzählweise nachplappern, absoluter Müll ist. Es kann vorkommen, dass Leute sich kritisch damit auseinander setzen und zum Schluss kommen, dass sich ihr Geschlechtsempfinden verändert hat. Dadurch ist ihre Identität genau so gültig wie die derer, die schon mit 3 Jahren äußerten, dass ihr zugewiesenes Geschlecht nicht stimmt und die immer dabei blieben. Und auch die Identität derer, die gestern ein Mann waren, heute eine Frau sind, nächste Woche gar nix und übernächste vieles sein werden, ist gültig. Wir brauchen keine allumfassende einzig wahre Geschichte, wie trans Leute sind [lies als: sein müssen]. Und wir dürfen keine Leute fertig machen, weil für sie das, was ich für mich als richtig empfinde, nicht passt. Trans[*] ist ein Umbrella-Term, also ein Überbegriff, unter dem, wie unter einem Regenschirm, viele andere Begriffe stehen können, die alle zu diesem Begriff gehören, der eine Oberkategorie bildet. Einen Umbrella-Term genau und auf nur eine Weise definieren zu wollen steht dem Sinn eines Umbrella-Terms entgegen. Wir brauchen nicht die eine wahre und klare Definition von trans. Stattdessen brauchen wir Zusammenhalt und Akzeptanz von Vielfalt. Liebe trans Leute, unterstützt eure trans Geschwister – egal, wie ihr Weg ausseht und ob ihr euren anders geht. Liebe cisgender Verbündeten, akzeptiert, dass euer Freund sein Transsein vielleicht anders erlebt und beschreibt als die trans Frau, die ihr gerade kennen gelernt habt. Informiert euch und nehmt ihr individuelles Erleben an. Es gibt nicht den einen richtigen Weg und Leute wissen selbst am besten, was gut für sie ist. #micdrop

#MikrophonWiederAufheb

Ach ja, ich wollte ja noch ein Thema behandeln. Menstruation.
Die meisten von uns sind vermutlich genervt von blauer Flüssigkeit, “sicher und diskret” und der Vorstellung, dass Leute während der “Tage” fünf Meter gegen den Wind stinken. Die Idee, Menstruation anders zu sehen, eventuell zu feiern und zu genießen, ist da eine erfrischende Alternative – solange es eine Anregung bleibt und es kein Diktat wird. Nicht alle können ihre Menstruation genießen. Manche haben Schmerzen, und die Botschaft “während der Mens bist du ekelig und schmierig und das musst du vor allen verstecken!” hinter sich zu lassen, kann eine Weile dauern. In das “feministische” Menstruationsdiktat fließt nicht nur ein, wie du deine Regel empfinden musst, sondern auch wie du damit umgehen sollst. Ich finde es toll, dass über freie Menstruation, Cups und waschbare Binden gesprochen wird und wir von Alternativen zu Einwegartikeln erfahren. Gesundheitliche und ökologische Vorteile sind natürlich eine tolle Sache. Wenn Leute aber dafür abgeurteilt werden, dass sie sich “gepresste gebleichte Watte in die Vagina stopfen” und ihnen die Müllberge vorgerechnet werden, läuft da was schief. Wenn Cups zum Nonplusultra erklärt und alles andere verteufelt wird, wird dabei einiges übersehen. Zum Beispiel, dass es nicht allen Leuten möglich ist, sich mit gutem Gefühl zehn Minuten in der Vulvina herumzufummeln, bis sie richtig sitzt. Cups benutzen ist auch Übungssache. Wer mit Trauma oder Dysphorie zu kämpfen hat oder es auch einfach nicht so toll findet, sich irgendetwas in Körperöffnungen zu schieben (außer vielleicht Kuchen in den Mund :3 ), fühlt sich mit Cups möglicherweise unwohl. Cups sind nicht der Messias, der uns von allem erlöst, auch wenn ihnen nachgesagt wird, dass du nie wieder Schmerzen hast und Regenbogeneinhörner um dich herum tanzen werden, um dich für dein neu entdecktes Gesundheits- und ökologisches Bewusstsein zu belohnen. Ich kann verstehen, dass sich manche Leute wohler damit fühlen, blutige Schleimhautfetzen samt Einwegprodukt so schnell wie möglich im Mülleimer zu entsorgen, statt mit blutverschmierten Händen Cup-Einsetz- oder Entfernungs-Aktionen durchzuführen. Oder auch keine nervigen Schmierblutungen aus Stoffbinden waschen zu wollen. Schmierblutungen sind die Schlimmsten!
Also: Urteilt nicht, wenn sich andere während ihrer Mens scheiße fühlen, weil sie den Gedanken, dass das ekelhaft ist, (noch) nicht hinter sich gelassen haben. Sagt nicht, dass Leute feiern müssen, wenn ihnen vor Schmerz übel wird. Und, verdammte Axt, erzählt Leuten nicht, was sie sich nicht in die Vagina schieben dürfen und was sie da unbedingt reinstecken müssen. Und redet Leuten kein schlechtes Gewissen ein, weil sie Einwegartikel benutzen. Wie daneben ist es, Leuten einzureden, was sie mit ihrem Körper machen sollen und was nicht?
Wenn ihr wollt und es allen recht ist, redet über Menstruation, was ihr gut findet, was euch gut tut, aber macht aus eurem Empfinden keine allgemeingültige Regel.

Das gleiche gilt übrigens für Schwangerschaftsverhütung, falls euch das betrifft.