Offener Brief an Deutschlandfunk Kultur

Im Folgenden wird die Entmenschlichung / Entpersonifizierung von und Gewalt gegen nicht binäre, trans, inter* und geschlechtlich nicht konforme Leute behandelt werden.

 

Liebe Deutschlandfunk Kultur Redaktion,

da mein bisheriger Versuch, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, ohne Reaktion Ihrerseits verlief, nutze ich diesen Weg, um Sie zu einer Reflexion darüber einzuladen, ob menschenverachtende Aussagen, wie sie in dem Interview, das Ute Welty am 19.09.2017 mit Barbara Vinken führte, getätigt wurden, in einem öffentlich-rechtlichen Medium Platz haben sollten.

Wie bereits mitgeteilt, bin ich sehr schockiert und mittlerweile auch tief verletzt, dass ein eigentlich recht harmlos anmutendes Interview über geschlechtsneutrale Kinderkleidung derart eskaliert, dass alle Personen, die nicht in das Zweigeschlechtersystem passen, zu Unpersonen erklärt werden. Auf die Frage der Interviewerin, ob geschlechtsneutrale Kleidung denn nun die Person betone oder eher in den Hintergrund rücken ließe, weil das Geschlecht ja auch zur Person gehöre, antwortete die Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken, dass “natürlich das Geschlecht die Person definiert oder das Gender die Person definiert und wir uns ja jemanden, der nicht Mann oder nicht Frau oder nicht Junge oder nicht Mädchen ist, eigentlich gar nicht vorstellen können.”  Diese Aussage schockierte mich zutiefst und noch mehr erschreckte mich, dass dieser Redebeitrag im Raum stehen gelassen wurde, ihm nicht widersprochen und diese Aussage in keiner Weise problematisiert wurde.

Da es mir ein Anliegen ist, Aussagen wohlwollend zu deuten, nehme ich an, dass weder Barbara Vinken noch Ute Welty das Ausmaß dieser Aussage bewusst war. Daher biete ich Ihnen hier eine ausführliche Erläuterung:

Es gibt sehr wohl Personen, die nicht Mann und nicht Frau, weder Mädchen noch Junge oder nicht ausschließlich eins dieser beiden sind. Ich bin eine dieser Personen, sehe mich durchaus als Person und für meine Existenz ist es gleichgütlig, ob Frau Vinken sich mich vorstellen kann oder nicht. Wenn mir gerade nicht nicht mein Personenstatus, mein Menschsein oder mein Nicht-Geschlecht aberkannt wird, lebe ich damit sogar sehr gut.
Wir sammeln uns unter Überbegriffen wie “nicht binär”, “non binary” oder kurz: “nb”, entsprechend der englischen Aussprache des Kürzels auch unter dem Nomen “Enby” oder “Enbies” im Plural. Des weiteren gibt es viele Wörter, mit denen Personen ihr Geschlecht oder Nicht-Geschlecht besser erfassen und erfahren sowie beschreiben können. Es finden sich Begriffe wie agender, genderqueer, neutrois, bigender und viele mehr.
Manche dieser Personen werden von anderen fälschlicherweise für Frauen gehalten. Manche werden irrtümlicherweise als Mann eingeschätzt. Manchmal sind Leute verwirrt über den Geschlechtsausdruck von Enbies, weil sie sich nicht sicher sind, ob sie nun eine Frau oder einen Mann vor sich haben. Enbies können also feminin, androgyn oder maskulin auftreten, wenig oder viel Geschlechtsempfinden und wenig oder viel Geschlechtausdruck haben. Und entgegen der Aussage von Barbara Vinken, dass das Geschlecht, bei dem Frau Vinken nur die Kategorien “Mann” und “Frau” bzw. deren kindliche Form “Junge” oder “Mädchen” zulässt, die Person bestimme, gehe ich davon aus, dass auch nicht binäre Leute Personen sind. Es schockiert mich zutiefst, dass ich mit diesem Brief gegen die Entmenschlichung von Personen eintreten muss, die nicht in das Zweigeschlechtersystem passen und dies gegenüber eines öffentlich-rechtlichen und qualitativ hochwertigen Mediums wie dem Deutschlandfunk.

Leider ist die Aussage, dass wir uns eine Person ohne binäres Geschlecht, Mann oder Frau, nicht vorstellen können, sachlich nicht falsch. Personen, die nicht in das Zweigeschlechtersystem passen, erfahren häufig Gewalt. Insbesondere transfeminine Personen sind frauen- und transfeindlicher Gewalt ausgesetzt, die nicht selten ihren Tod zur Folge hat. Nicht umsonst gibt es am 20. November den Transgender Day of Remberence, an dem der Toten gedacht wird, die in Folge von transfeindlicher Gewalt starben / ermordet wurden. Entmenschlichung und die allgegenwärtige Drohung von Gewalt und Tod ist etwas, mit dem wir leben müssen. In einem solchen Klima darf eine solche Aussage nicht einfach als Bestandsaufnahme genannt werden, ohne auf die tragischen Folgen dieser Sichtweise hinzuweisen. Passiert es doch, erweckt es leider den Eindruck, als würde die Sprecherin die Gewalt gegen und Diskriminierung von nicht binären, trans, inter* und geschlechtlich nicht konformen Personen gutheißen.

Besonders grausam wird diese Aussage, wenn wir die Schicksale von inter* Kindern betrachten. Inter* Menschen können von Mediziner*innen nicht eindeutig dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden. Deshalb werden sie oft ohne ihre Zustimmung oder gegen ihren Willen Operationen unterzogen, die viele als gewaltsam empfinden und leiden unter Folgeschäden dieser medizinisch nicht notwendigen Eingriffe. Die grausigen Details spare ich an dieser Stelle aus. Wer es möchte, kann sich auf den Seiten von Inter*-Organisationen persönliche Berichte durchlesen. Und dies geschieht nur, weil sie, wie Barbara Vinken richtig erkennt, aber leider nicht problematisiert, nicht als Person gelten, solang sie nicht eindeutig als Mädchen oder Junge zu erkennen sind.

Über eine Antwort freue ich mich – auch wenn ich mittlerweile keine mehr erwarte und mich frage, ob es naiv war, mit einer Reaktion zu rechnen, wo ich in dem Beitrag, den ich kritisierte, doch zur Unperson erklärt wurde und somit wohl keiner Antwort würdig bin. Ihr Einverständnis vorausgesetzt werde ich, insofern es dazu kommt, folgende Kommunikation offen stattfinden lassen.

Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen.

 

Hintergrund:

Ich schreibe diesen offenen Brief, da ich keine Antwort von Deutschlandfunk erhielt. Nachdem ich den entsprechenden Bericht am 19.09. hörte, hinterließ ich auf deren Facebook-Seite einen kurzen sarkastischen Kommentar und drückte am gleichen Tag über das Feedback-Formular meine Empörung aus, weil ich davon ausging, dass auf diese Art eingereichte Kritik beachtet wird.
Seitdem passierte … nichts. Ich bin mir nicht sicher, ob sich hinter der Aussage in der automatischen Eingangsbestätigung, dass “eine ausführliche Beantwortung indes nur in Einzelfällen” stattfinden könne, verbirgt, dass generell nicht geantwortet wird oder ob dies, wie ich es zunächst deutete, heißt, dass ich eine kurze Rückmeldung erhalten werde. Daher fällt es mir schwer, einzuschätzen, worauf das beharrliche Schweigen zurück zu führen ist.